18.07.2024
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 9. Teil: Im Käfig der Sinne
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 9. Teil: Im Käfig der Sinne
Foto Harald Deilmann: Wahrnehmung der Grenzen – Grenzen der Wahrnehmung
Werner Bitzigeio hat während des Internationalen Bildhauersymposiums ein begehbares Objekt aus unzähligen Stäben Cortenstahl zusammen- geschweißt. Dieses Material bildet eine rostige Patina aus, ist aber witterungsbeständig. Durch seine Farbe fügt es sich gut in die Umgebung am Dreiländereck ein. Die äußere Form erinnert an einen Quader. In Mathematikbüchern werden solche Körper oft durch die Anordnung ihrer Kanten dargestellt. Werner Bitzigeio hat aber noch viele weitere Stäbe hinzugefügt, die ihrerseits Körper bezeichnen könnten, eine Vielzahl von Würfeln möglicherweise. In der Geometrie werden Körper durch ihre Oberfläche definiert, hier sind Oberflächen tatsächlich nicht vorhanden. Wir stellen uns die Flächen nur vor, in Wirklichkeit gibt es sie nicht. Von außen sichtbar sind zwei stabfreie Öffnungen, einladende Zugänge. Dort finden sich auch Treppenstufen, ebenfalls aus Stahlmatten, aber in Weiß. Vermutlich überwiegen hier Sicherheitsgründe. Kunstinteressierte sollen sich sicher bewegen und nicht in das Werk hineinstolpern. Im Innern befinden sich zwei Räume. Von außen sind sie kaum wahrnehmbar. Sind das Räume? Zumindest sind das stabfreie Zonen, die einen Aufenthalt gestatten. Räume ohne Wände, trotzdem glauben wir, uns in einem Raum zu befinden. Räume ohne Fenster, trotzdem genießen wir den Blick in die Natur. Ist das überhaupt Natur? Ist das draußen? Wie nehmen wir wahr, wie gewinnen wir Erkenntnisse? Zu dieser grundlegenden philosophischen Frage bietet uns Werner Bitzigeio hier am Dreiländereck einen Selbstversuch an. Es ist nichts im Verstand, was wir nicht vorher mit unseren Sinnen wahrgenommen haben, versichern uns berühmte Philosophen von John Locke über Gottfried Wilhelm Leibniz bis Immanuel Kant. Können wir das Kunstwerk erkennen, wie es ist? Eine Fliege wird es anders „sehen“ als ein Hund. Auch wir können es nur so wahrnehmen, wie es unsere Sinnesorgane gestatten. Wie es „wirklich“ ist, können wir nicht wissen. Zudem interpretiert unser Gehirn die Sinneseindrücke und bildet Begriffe, damit wir diese Eindrücke verstehen und ordnen können. Interpretiert das Gehirn richtig? Wir gehen in Räume, die es nicht gibt, stehen auf einem Boden, der nicht da ist und schauen durch Wände, die nicht existieren. Wir sehen Natur, die nicht natürlich ist. Der Künstler fordert die Besucherinnen und Besucher zu Aktivität auf. Wie verändert sich unsere Wahrnehmung, wenn wir die Blickrichtung ändern? Kommt das Gehirn damit klar, wenn wir nach oben schauen oder nach unten? Fühlen wir uns dann noch in einem Raum? Glauben wir weiter, auf sicherem Boden zu stehen? Im täglichen Leben fühlen wir uns sicher. Wir nehmen wahr, wir ordnen ein. Wir glauben selbstverständlich zu wissen, wie die Dinge sind. Das Kunstwerk am Dreiländereck lehrt uns, etwas kritischer damit umzugehen, wie wir wahrnehmen und was wir wahrnehmen. Allzu sicher sollten wir nicht sein!
Harald Deilmann
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 8. Teil: Rundheit
Foto Harald Deilmann: Der göttliche Donut
Herbert Lankl hat als einziger Künstler des Internationalen Bildhauersymposiums seine Skulptur nicht kommentiert. Er veröffentlicht auf der Objekttafel ein Zitat von Nikolaus von Kues, das nicht einfach zu verstehen ist. Nikolaus von Kues (1401–1464) war ein Universalgelehrter des 15. Jahrhunderts und wird zu den Humanisten gerechnet. Als Denker steht er damit zwischen dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Der Name ist kein Adelsprädikat sondern bezeichnet seinen Geburtsort an der Mosel. Cusanus heißt er latinisiert, wie es unter den Gelehrten der damaligen Zeit üblich war. Philosophisch bezog sich Cusanus unter anderem auf die Theorien des Mallorquiners Ramon Llull und Meister Eckardts, die beide von der Kirche als Ketzer verurteilt worden waren. Auch gegen ihn wurde öffentlich dieser Vorwurf erhoben. Als persönlicher Freund Papst Pius II. brachte er es aber bis zum Kardinal. Cusanus entwickelte auch bahnbrechende kosmologische Vorstellungen, die er aber nicht naturwissenschaftlich, sondern metaphysisch begründete. Aus diesem Zusammenhang stammt auch das Zitat, das Herbert Lankl anführt. Giordano Bruno, der diese Ideen weiterentwickelte, wurde dafür noch 1600 in Rom öffentlich als Ketzer verbrannt. Zeitlebens beschäftigte sich Cusanus mit dem Problem, den Glauben an Gott mit der Vernunft in Einklang zu bringen. Nach seiner Vorstellung ist Gott „alles, was sein kann“. In Gott fallen alle Gegensätze zu einer Einheit zusammen. Die menschliche Vernunft kann dagegen nur Erkenntnisse gewinnen, wenn sie trennt und unterscheidet. Ein Ineinanderfallen von Vielheit und Einheit oder der Wirklichkeit mit allen Möglichkeiten, ist zwar vorstellbar, aber nicht denkbar. Das Wesen Gottes kann mit Vernunft nicht erkannt werden. Der Mensch der sich der Begrenztheit seines Denkens bewusst ist, kann sich der Erkenntnis des Wesens Gottes nur in Vergleichen annähern. Wie sollen wir nun das Werk von Herbert Lankl verstehen? Die Skulptur wurde aus Basalt geschlagen, ein Lavagestein mit engem Bezug zum Vulkanismus der Eifel. Basalt ist bei uns regional, kommt aber überall auf der Erde vor. Basalt ist ursprünglich flüssig, begegnet uns hier aber als festes Gestein. Auch wenn die Einheimischen Lankls Rundheit liebevoll „unser Donut“ nennen, im Gegensatz zu dem süßen Gebäck ist das Loch hier nicht in der Mitte platziert. Offensichtlich ist die Skulptur rund. Genau genommen ist sie aber an jeder einzelnen Stelle anders rund. Nirgendwo ist die Rundheit gleich. Trotzdem ist der „Donut“ „nicht selbst die absolute, ganz wahre Rundheit. Sie ist darum ein Bild der absoluten Rundheit.“ (Cusanus) Herbert Lankl hat ein frommes Werk geschaffen. Schon in seinem Material fallen Gegensätze in Eins: Regional – weltweit, flüssig – fest. Seine „Rundheit“, die aus unendlich vielen Rundheiten besteht, ist eine Annäherung an die absolute Rundheit, die nach Cusanus, dem Wesen Gottes nahekommt. Dennoch bleibt es eine Annäherung durch eine Analogie, weil die menschliche Vernunft das Absolute nicht erkennen kann.
Harald Deilmann
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 7. Teil: Faltenstein
Foto Harald Deilmann: Was möchte dieser "verstolperte Teppich" dem Betrachter wohl sagen?
Alisons Darbys Skulptur „Falten“ muss sich gar nicht hinter dem Text der daneben stehenden Objekttafel verstecken, der den Leser ziemlich ratlos zurücklässt. Der Wanderer stößt auf eine Skulptur, deren Oberfläche an einen verstolperten Teppich erinnert. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass es sich hier um Sandstein handelt. Auch wenn die Oberfläche ansteigt, als solle ein fliegender Teppich abheben, sorgt die deutlich sichtbare, fast fühlbare Schwere des massigen Steins für Bodenhaftung. Aus dem Boden emporsteigend steht die Skulptur in deutlicher Konkurrenz zu den sie umgebenden Hängen, die zum Ourtal hin steil abfallen. Auch die rosige Farbe des Steins wirkt komplementär zum frischen Frühlingsgrün der Wiesen. Im Spätsommer und Herbst wird die Natur ihre Farben dann an die Skulptur anpassen. Die Künstlerin sieht ihr Werk und besonders seine Oberfläche „als Verbindung zwischen der Luft und den Tiefen der Erde, zwischen Organischem und Mineralischem, …“. Auch wenn die Luft selbst nicht organisch ist, verstehen wir doch, was gemeint ist. Die Wiesen bilden in der Landschaft einen sehr viel glatterer Bodenbelag als die Falten, die Alison Darby in Stein gestaltet hat. Wenn wir uns aber einmal die gleichmachende Wirkung des Kreiselmähers und das plüschig wirkende Gras wegdenken, dann werden wir ähnliche Strukturen des Bodens entdecken. Die Künstlerin bezeichnet die Oberfläche ihrer Skulptur auch als „Schnittstelle“. Ein Begriff aus der Welt der Computer. Gewöhnlich werden dort Stecker zusammengesteckt. In der Natur ist es ähnlich. Die organischen Wurzeln des Grases durchdringen die überwiegend mineralische Erde und saugen daraus Wasser und Mineralien. Im Gegenzug wird die Erde mit abgestorbenen Wurzeln und anderem organischen Material zusätzlich angereichert. Diese Kontaktzone könnte man auch als ineinander gefaltet begreifen. Falten sind ja real viel beweglicher, als die Steinfalten von Alison Darby. „Falten“ könnten wir in diesem Sinne vielleicht tatsächlich als Ersatz- und Erkennungswort (Metonymie) verwenden. Gemeint wären damit alle geologischen und biologischen Vorgänge, aus denen der Islek entstanden ist. Vergessen wir nicht die Menschen. Die Künstlerin „… lädt zum Sitzen und Bleiben ein.“ Die Geologie des Islek, die hier meist nur wenige Dezimeter unter der Erde liegt, scheint emporgehoben. Wer darauf sitzt, fühlt sich erhaben, wie auf einem Thron, wie der Burgherr, der sein Land überblickt. Tief ins Ourtal geht der Blick, weit über die gegenüberliegenden bewaldeten Hänge bis auf die Hochfläche des Eeslek. Und wirklich sind es ja die Menschen, die hier leben und arbeiten, die die Landschaft so geformt haben, wie sie heute eben ist. Und da ist noch eine Schnittstelle: Die untere Falte ist so gestaltet, dass sie eine Wasseransammlung erlaubt. Regen sammelt sich hier, Vögel setzen sich und tragen das Wasser in die Luft zurück.
Harald Deilmann
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 6. Teil: rauf und runter im ÉIslek - UPANDDOWN
Foto Harald Deilmann: Rauf und runter geht es bei der Skulptur von Martin Schöneich
Martin Schöneich hat seine Skulptur in schönstem Englisch, aber verfremdet durch fehlende Abstände zwischen den Worten, „up and down“ genannt. Das heißt eben nichts anderes als auf und nieder, oder volkstümlicher: ʼrauf und ʼrunter. Knapper und treffender kann man den Charakter dieser Landschaft kaum beschreiben, die bei den deutschen Bewohnern Islek heißt, bei den Luxemburgern Éislek und in Belgien Eeslek. Wegen der Lesbarkeit der Überschrift konnte ich diese Schreibweise leider nicht berücksichtigen. Liebe Ostbelgier verzeiht mir. Die Landschaft ist eigentlich eine große, grenzüberschreitende Hochfläche mit regional und örtlich unterschiedlichen Untergliederungen und Namen. Nach Süden sinkt sie leicht ab, ist aber geologisch und geografisch deutlich vom angrenzenden Gutland unterschieden. Bäche und Flüsse haben sich steil in diese Hochebene mit ihren anmutigen Hügeln eingeschnitten. Wandernde können weit über die Landschaft blicken, bis in die Nachbarländer. Über die steilen Täler schaut man hinweg. In den Talauen mäandern die Bäche und bilden oft feuchte bis sumpfige Bereiche. In heißen und trockenen Sommern waren es früher willkommene Weiden für das Vieh. Heute sind sie oft von Weidenbuschwerk überwuchert. Der Wald wächst überwiegend an den Steilhängen. Gerade entlang der Straßen sind oft Eichenlohwälder zu erkennen. Die Rinde wurde früher abgeschält, um Gerberlohe zu gewinnen. Mancherorts gibt es auch noch die natürlich vorkommenden Hainsimsen-Buchenwälder. Es überwiegt aber der dunkle Nadelwald aus Fichten und Douglasien. Für den modernen motorisierten Verkehr ist die Hochfläche kein Problem. Straßen führen mit langgezogenen Kurven durch die Hügellandschaft und durch Dörfer, die oft in Mulden liegen, um dem Wind zu entgehen. Die steilen Täler können dagegen nur auf engen Haarnadelkurven durchquert werden, oft mit ungewohntem Gefälle oder umgekehrt mit ordentlicher Steigung. Schmale Landstraßen, viele Richtungswechsel und enge Kurven können Ortsunkundige ziemlich verwirren. Da hilft dann die moderne Technik. „Wenn ich in den Islek fahre, richte ich mich stur nach dem Navi, sonst komme ich nie an.“, hört man häufiger. Das Werk von Martin Schöneich „ist aufgebaut wie eine Spirale, die zwei Seiten aufweist.“ Man könnte auch an einen Knoten denken. Die Skulptur „will die Hügellandschaft aufnehmen und steht für die sie umgebenden Landschaftsformen“ des Islek. So entdecken wir denn auch sanfte Hügel, steil aufstrebende Hänge und plötzlich steil abfallende Kurven. Die „gespitzten“ Seitenflächen erinnern an die Darstellung von Wäldern auf einer Landkarte. Die geschliffenen Flächen könnten Weidegründe sein oder auch Verkehrswege. Die massive Skulptur hat einen Clou. „Sie steht auf einem Punkt und einer Kante. Punkt und Kante bringen die sonst schwere Masse zum Schweben.“ Diese Leichtigkeit kennzeichnet auch die Landschaft. Denn trotz der enormen Höhenunterschiede wirken die Steilhänge nie überwältigend oder erdrückend. Und wer bei schönem Wetter von einem Hügel aus weit über die Hochfläche blickt, kann sich kaum des Eindrucks erwehren, zu schweben.
Harald Deilmann
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 5. Teil: Weg ohne Ziel - Der Wegweiser
Foto Harald Deilmann: Wegweiser ins Nirgendwo
Bertrand Ney fühlt sich auch als Künstler der Nachhaltigkeit verpflichtet. Beim Internationalen Bildhauersymposium in Welchenhausen wurde für die geplante Skulptur ein riesiger Sandsteinblock angeliefert, der sich als zu groß erwies. Sollte das wertvolle überschüssige Material einfach weggeworfen werden? Abfall? Ökologisch kein Problem; die Arbeit aber, die in diesem Block steckt, wäre vertan. Bertrand Ney spaltete den Block in einer riskanten Aktion der Länge nach. Schließlich schlug er daraus gleich zwei Kunstwerke, zwei Wegweiser. Der große steht knapp außerhalb von Welchenhausen in der großen Haarnadelkurve. Dort zweigt der Skulpturenweg von der Hauptstraße ab und führt bergauf, wo am Anfang einer großen Wiese der zweite Wegweiser grüßt. Der Weg ist gefunden. Beide Wegweiser fallen durch ihren starken aufragenden Schaft auf, den die verbliebenen Spuren des Bohrers waagerecht gliedern. Am oberen Ende ist ein mächtiger Kopf ausgebildet, der nach hinten auskragt. Der große Wegweiser zeigt mit drei Einkerbungen die Richtung an. Der kleinere Wegweiser „antwortet“ mit drei hervorstehenden Zacken, die dem Weg zugewandt sind. Für Bertrand Ney war es wichtig, den Ort zu kennen, wo sein Wegweiser „ein integraler Bestandteil der Umgebung sein wird …“. Durch ihre „Vertikalität zwischen Himmel und Erde“ sieht er sie in dieser Landschaft verankert. Bertrand Ney betrachtet seine Skulpturen nicht als typische, quasi amtliche Wegweiser. Er vergleicht sie mit „Wahrzeichen, Landmarken, die in der uralten Tradition stehen, vorüberziehenden Wanderern die Richtung zu weisen.“ Normalerweise gehen wir davon aus, dass ein Weg „von A nach B“ führt. Alle Wegweiser nennen ein Ziel und weisen die Richtung. Wer nach dem Weg fragt, der fragt nach einem Ziel. Üblicherweise stehen Wegweiser dort, wo Wege sich verzweigen oder sich kreuzen. So ist es auch bei den Wegweisern, von denen hier die Rede ist. Es ist aber richtig, dass sie eher Wahrzeichen oder Landmarken gleichen, die kein Ziel ausweisen, die aber beim Wanderer Wissen über sein Ziel voraussetzen. Gibt es Wege ohne Ziel? Stimmt es, dass der Weg das Ziel sein kann? Wer mag einen Weg einschlagen, nur um sich zu be-WEG-en? Ohne eine Ahnung, wie lang der Weg sein wird und wie beschwerlich. Strapazen nimmt nur auf sich, wer sein Ziel erreichen und das Glücksgefühl dieses Erfolgs genießen will. Wer behauptet, der Weg selbst sei das Ziel, der hat jede Hoffnung aufgegeben, und gibt trotzdem vor, es gäbe ein Ziel, den Weg eben. Bertrand Neys Wahrzeichen weisen den Weg und sie zeigen, worum es hier geht: Um Skulpturen, um Kunst! In diesem besonderen Fall kann der (Skulpturen)-Weg doch das Ziel sein. Aber wir wissen um die Länge, wir wissen um die Schwierigkeiten und wir wissen, dass es Körper und Geist Freude macht, Kunstwerke in der freien Natur zu genießen. Deshalb können wir den Skulpturen-Weg Welchenhausen guten Gewissens als Ziel empfehlen.
Harald Deilmann
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 4. Stein oder nicht Stein - Ein Baum und ein Stein
Foto Harald Deilmann: Der Baum und der Stein symbolisieren ein Märchen von der Vergänglichkeit - Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage...
Sandrine Brasseur hat zu ihrer Skulptur ein Märchen erzählt: „Es war einmal eine Insel, auf der ein Felsen lebte. Eines Tages erschien ein Baum mit seinen lauten Blättern, so dass der Felsen beschloss, die Insel zu verlassen. … Auf dieser Insel ist der Fels immer noch, der Baum ist schon lange nicht mehr da. …“ Der Fels, also der Stein, fühlt sich von dem Baum offensichtlich belästigt. Er empfindet den Baum als laut und störend. Deshalb will er auswandern. Wie wir erfahren und natürlich aus eigener Erfahrung verstehen, ist das nicht möglich. Der Stein ist leise, er ruht in sich selbst und ist ein Muster an Stabilität und Beständigkeit. Dass er auch nach längerer Zeit „immer noch da“ ist, das erscheint uns selbstverständlich. Warum der Baum dagegen „schon lange nicht mehr da“ ist, erklärt uns das Märchen nicht. Märchen sind phantastische Erfindungen, da kann der Baum nerven und ein Stein sich ärgern. Was sagt uns Sandrine Brasseurs Skulptur, wenn wir sie einmal so nehmen, wie sie ist?
Der Stein wird, wenn wir es denn so bezeichnen wollen, ein langes Leben haben. Wenn wir in fünf, in zehn oder in zwanzig Jahren die Skulptur von Sandrine Brasseur besuchen, dann wird der Stein voraussichtlich immer noch da sein. Falls keine Kunstbanausen eingreifen, wird es den Stein auch für unsere Kinder und Enkelkinder noch geben. Wie wird es ihm bis dahin ergangen sein? Eins ist klar: Der Stein wird nicht mehr derselbe sein. Wind und Regen, Hitze und Frost werden ihm zusetzen. Auch wenn wir es selbst nicht mehr erleben, wir wissen ganz genau, dass die Erosion diesen Stein abtragen wird. Irgendwann wird von ihm nur noch ein Häufchen Sand übrig sein. Und auch das wird der Wind in alle Richtungen verstreuen. Der Stein kann sich nicht dagegen wehren. Auch wenn wir ihm Langlebigkeit zugeschrieben haben, der Stein war immer schon tot! Wie wird es dem Baum wohl ergehen? Der Baum ist ein quirliger Zeitgenosse. Er mag laut sein, wenn der Wind durch seine Blätter streicht. Er kann mit dem Wind umgehen. Er beugt sich, wenn es stürmt. Selbst wenn der Sturm ihn umwerfen sollte, kann er neu austreiben und wenn der Regen ausbleibt, zapft er mit tiefen Wurzeln das Grundwasser an. Der Baum ist den Unbilden der Witterung nicht schutzlos ausgeliefert. Er kann sich auf die Umstände einstellen, denn er lebt. Natürlich könnte er durch unglückliche Umstände zerstört werden, wahrscheinlich ist das nicht. Während der Stein nur schrumpfen kann, kann der Baum wachsen. Mehr noch: Der Baum wird blühen und Früchte tragen. Der Baum wird sich vermehren. So mag es sein, dass eines Tages ein kleines Wäldchen statt Sandrine Brasseurs Kunstwerk an dieser Stelle steht und der Stein ist verschwunden. Wie steht es um das Muster von Stabilität und Beständigkeit. Ist es der Stein, der unweigerlich vergeht, auch wenn wir es kaum bemerken? Oder ist es der Baum, der sich ständig verändert und vermehrt? Kann es sein, dass nur die Veränderung beständig ist?
Harald Deilmann
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 3. Eine Brücke zum Besitzen - de Brug
Foto Harald Deilmann: "De Brug" - eine Brücke, die Welten verbindet und wo Menschen zusammenkommen
Patrick Crombé wurde in Schaarbeek geboren und wuchs in Sint Pieters Woluwe auf. Beides liegt in der Region Brüssel. Wollewei, wie er es nennt, war damals noch ein flämisches Dorf, Patrick Crombés Muttersprache flämisch, seine Familie eine alteingesessene Steinmetzdynastie und seine „Wiege befand sich zwischen Marmor und Blaustein“, wie er schreibt. Der Weg als Künstler war alles andere als vorgezeichnet. Als er zufällig mehrere Kunstpreise beim Frühlingsfest des Sint Jozef College gewann, gab ihm dies das Selbstvertrauen und den Mut, sich auf der Abendschule anzumelden. Sein Talent wurde gefördert und er konnte auch die Kunstakademie in Brüssel abschließen. Er gewann Preise und Stipendien. Für Patrick Crombé ist „eine Brücke die Verbindung zwischen zwei getrennten Welten“. Damit kannte er sich aus. Der Sprachgegensatz zwischen dem frankophonen Brüssel und den flämischen Dörfern des Umlands; der Hochmut der Brüsseler gegenüber den flämischen Bauern, die ihre Produkte in die Stadt brachten; der soziale Gegensatz zwischen der Großstadt und den Dörfern; der Gegensatz zwischen Steinmetz-Handwerk und akademischer Bildhauerei; der Gegensatz zwischen der Begrenztheit des Dorflebens und dem eigenen kosmopolitischen Leben als Künstler. Mit all diesen Gegensätzen lebte Patrick Crombé. So schuf er beim Internationalen Bildhauersymposium in Welchenhausen eine Brücke, flämisch Brug. Sie steht erhöht am Waldrand neben der Straße von Stupbach nach Welchenhausen und kann leicht übersehen werden. Die Skulptur hat einen eleganten Bogen, ähnlich wie alte venezianische Brücken. Das rechte Widerlager macht einen massiven Eindruck, das linke wirkt zierlich elegant. Der Brückenbogen überspannt einen leeren Raum, wie es sich für eine Brücke gehört. Aber diese Brücke verbindet nichts, schon gar keine „getrennten Welten“. Oder doch? Der Künstler hat uns noch eine andere Vorstellung von der Funktion einer Brücke mitgegeben: „Sie gibt uns die Möglichkeit zusammenzutreffen.“ Deshalb schlägt er selbst vor, sie als Bank zu nutzen, „um während eines Spaziergangs eine Weile auszuruhen.“ Ganz bequem sitzt man nicht, aber man kann zur Ruhe kommen. Es passiert hier fast nichts, es ist still. Wer auf Patrick Crombés Brücke verweilt hört das Rauschen der Blätter im Wind, vielleicht raschelndes Laub, wenn gerade ein Tier in der Nähe ist. Der Blick schweift über die Flussaue der Our. Flache Wiesen sind es hier und drüben, auf der belgischen Seite ein Steilufer. Gibt es eine Grenze? Man bemerkt sie nicht. Man kann auch an den Künstler denken, der früh verstorben ist. Zwei Jahre nachdem er die Brücke schuf. So treffen sich auf dieser Brücke doch getrennte Welten. Mensch und Natur, Wiesen und Felsen, Deutschland und Belgien, Lebende und Tote. Nicht real, aber in uns.
Harald Deilmann
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 2. Getrennte Verbundenheit - der Brückenschlag
Foto Harald Deilmann: "Brückenschlag" heißt die Doppelskulptur von Christoph Mancke, diesseits und jenseits der Our aufgestellt
Christoph Mancke hat seine Doppelskulptur „Brückenschlag“ beiderseits des Grenzflusses Our platziert. Am deutschen Ufer fällt zuerst ein mächtiger Sandsteinblock mit figurativem Ausschnitt auf. Man mag darin vielleicht die Abstraktion eines Wanderers sehen, vielleicht auch eine Art von Tor, vielleicht fehlt auch nur etwas. Erhellend ist der Blick durch den Ausschnitt des Blocks. Auf dem gegenüberliegenden Hang, schon in Belgien, erregt eine Stahlskulptur Aufmerksamkeit. Sie füllt die „Fehlstelle“ des Sandsteins aus und übernimmt genau ihre Form. Diese Blickachse avancierte, vom Künstler durchaus beabsichtigt, zum beliebtesten Fotomotiv der Skulptur. Der kleine Fluss Our bildet hier erst seit knapp einhundert Jahren als Folge des I. Weltkriegs die Grenze zwischen dem Königreich Belgien und Deutschland. Im Lauf der Jahrhunderte hatte sich die staatliche Herrschaft über diese Region häufig verändert. Auf der jetzt belgischen Seite liegen frankophone und germanophone, also französischsprachige und deutschsprachige Dörfer verstreut in der Landschaft. Auch innerhalb der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) gibt es frankophone Dörfer. Und in der frankophonen Wallonie gibt es auch deutschsprachige Dörfer. Die Gemengelage mutet ein wenig an wie mittelalterlicher Streubesitz. Das führte 1925 zu einer umstrittenen Eingliederung in den belgischen Staat. Nach der Nazidiktatur und der vorübergehenden Annexion gehören die sogenannten Ostkantone wieder zu Belgien. 1956 wurde der Grenzverlauf endgültig völkerrechtlich geregelt. Die deutschsprachige Bevölkerung litt aber auch danach noch unter der belgischen Sprachpolitik und Assimilierungsversuchen. Erst 1963 wurde das deutsche Sprachgebiet in Belgien offiziell anerkannt. Seitdem bemühen sich alle Seiten um einen Interessensausgleich und gegenseitige Rücksichtnahme. Der mächtige Sandsteinblock erinnert an die Übermacht Deutschlands, unter der das neutrale Belgien in zwei Weltkriegen zu leiden hatte. Die Skulptur auf dem belgischen Ufer nimmt sich dagegen recht zierlich aus, das kleine Ostbelgien. Auch wenn beide Teile der Doppelskulptur so unterschiedlich sind, erinnert die Formensprache an die grundlegenden Gemeinsamkeiten. Unterhalb der Ebene der „großen“ Politik bestanden zu allen Zeiten viele Verwandtschaften und enge Freundschaften. Bäuerlicher Grundbesitz musste bearbeitet werden, egal ob diesseits oder jenseits der Grenze gelegen. Auch bei der Wahl des Arbeitsplatzes spielte die Grenze keine Rolle. Die Erschwernisse durch teils kleinliche Kontrollen umgingen die Betroffenen möglichst mit sportlichem Ehrgeiz und genauer Ortskenntnis. Grundlage dieser grenzüberschreitenden Verbundenheit ist immer noch die gemeinsame Sprache, dieser spezielle Dialekt, mit dem man sich verständigt, an dem man sich erkennt und durch den man sich zusammengehörig fühlt. Die weißen Flecken auf der Stahlskulptur zeugen nicht von einer Abnutzung der Gemeinsamkeiten, es sind die Spuren eines Reihers, der sich eh nicht an Grenzen hält.
Harald Deilmann
Leserserie: 5 Jahre Skulpturenweg Welchenhausen: 1. Michelangelo an der Our - der Dreiländereck-David
Foto Harald Deilmann: Der Dreiländereck-David an der Our in Stoubach
Der Dreiländereck-David von Susanne Paucker steht an der Ourbrücke zwischen Stoubach (Gemeinde Burg Reuland) und Stupbach (Eifelkreis) auf der belgischen Seite. Der Name der beiden Dörfer erinnert daran, dass diese Grenze nicht immer bestand. Das Gebiet war jahrhundertelang umstritten und die staatliche Herrschaft wechselte häufig. Die aktuelle Grenze basiert auf dem Versailler Friedensvertrag nach dem I. Weltkrieg und einer umstrittenen Volksabstimmung von 1920. Heute nach knapp einhundert Jahren bemerkt man die Grenze kaum noch. Der Bezug des Kunstwerks auf die drei Länder Belgien, Deutschland und Luxemburg wird offensichtlich durch die drei Farben des Sandsteins. Die enge puzzleartige Verbindung erklärt sich durch die Europäische Union in der die drei Länder miteinander verbunden sind. Aber welche Verbindung besteht zu einem Kunstwerk, das vor über einem halben Jahrtausend in Florenz entstand? Michelangelo, der Künstler ist immerhin berühmt. Eine Beziehung bringt die Künstlerin selbst ein. Sie lebt zeitweise bei Florenz und machte ihr Diplom an der Akademie der schönen Künste in Carrara. Dies ist der Ort mit den weltberühmten Marmorsteinbrüchen. Hier wurde auch der Block gebrochen, aus dem Michelangelo von 1501 bis 1504 seine Statue des David schlug. Die Künstler der Renaissance orientierten sich an der Menschendarstellung der Griechen und Römer in der Antike. Ursprünglich war Michelangelos Werk für den Dom bestimmt, doch der nackte Jüngling, den er schuf, kam für eine Kirche nicht mehr infrage. Der biblische David wurde meistens nach seinem Sieg über Goliath dargestellt. Anders Michelangelo, er zeigt David vor dem Kampf. Lässig steht er da, die vorbereitete Steinschleuder über der Schulter. Nur die Halssehnen, die gerunzelte Stirn und der angespannte Gesichtsausdruck zeigen seine Bereitschaft zum Kampf. Wer ist der unsichtbare Gegner? Die Florentiner hatten gerade zehn Jahre zuvor die Herrschaft der Familie Medici abgeschüttelt und eine Republik gegründet, die Selbstregierung der Bürger. Sie sahen in Michelangelos David den kampfbereiten Verteidiger der Republik und ein Symbol von Freiheit und Bürgerstolz. Deshalb wurde er vor dem Rathaus aufgestellt. Als die Familie Medici ein viertel Jahrhundert später die Herrschaft wieder eroberte war der David so sehr zu einem Symbol der Stadt Florenz geworden, dass sie ihn nicht antastete. Susanne Paucker sieht den David „als Symbol von Freiheit, Stärke und ein Idealbild der Menschheit“. Ihre Skulptur kopiert Michelangelo nicht, sie zitiert und verfremdet das Vorbild. Auch sie verwendet regionales Gestein, nämlich Eifeler Sandstein. Der Dreiländereck-David „soll die Zusammengehörigkeit und den Zusammenhalt der Region … und ihrer Menschen verdeutlichen.“ Dazu gehört auch die Demokratie in unseren Ländern, darauf sollten wir Bürger stolz sein.
Harald Deilmann |